Science-Texts

Aktuelle Seite: Home > News > Rezension: Spektrum Denkanstöße - Große Fragen

Rezension: Spektrum Denkanstöße - Große Fragen

Die Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft fällt seit einigen Jahren durch innovative Print- und Online-Projekte auf, beispielsweise die Wissenschaftsblog-Plattform SciLogs, das neue Printmagazin Spektrum Neo für Kinder und Jugendliche oder das hier vorzustellende Heft "Spektrum Denkanstöße", das in Zusammenarbeit mit dem Hirzel-Verlag entstand und den "großen Fragen" gewidmet ist: "Was ist Zeit? Worin besteht Geist? Woher kommt das Böse? Brauchen wir Gott? Ist das Gehirn manipulierbar?" Das Konzept: Auszüge aus neun bedeutenden Büchern des Hirzel-Verlags wurden mit Kommentaren von Bloggern und Autoren aus dem Spektrum-Umfeld kombiniert, die diese Bücher erneut gelesen haben.

Die Auswahl der Werke spricht mich an; einiges davon steht bereits in meiner Bibliothek; anderes werde ich mir nun vielleicht anschaffen. Die Überschrift des Editorials von Lars Fischer, "Werke von zeitlosem Wert", reizt allerdings zum Widerspruch: Meines Erachtens fördert es für das Verständnis der Texte, ihre jeweilige Entstehungszeit und ihren Kontext (z. B. die philosophischen Schulen ihrer Autoren) zu reflektieren. Genau das leisten einige der Kommentatoren auch, und diese Einordnungen bieten den Lesern einen Mehrwert zum Beispiel gegenüber Buchbesprechungen, die zwangsläufig meist kürzer ausfallen.


Auffällig oft loben die Kommentatoren den guten, klaren, "alterslosen" Stil der vorgestellten Werke. Bei C. F. von Weizsäckers "Der begriffliche Aufbau der theoretischen Physik" führt Markus Pössel diese Frische darauf zurück, dass der Text aus einer Vorlesungsmitschrift entstanden ist. Auch inhaltlich seien weite Teile noch gültig; in der Kosmologie, der Quantentheorie und der Biologie hat sich seit 1948 jedoch so viel getan, dass man von Weizsäckers Werk besser nicht als "zeitlos" liest.

Das zweibändige Werk "Was können wir wissen?", in dem Gerhard Vollmer Mitte der 1980er-Jahre seine evolutionäre Erkenntnistheorie ausgebreitet hat, wird von Ulrich Frey kommentiert, der bei Vollmer promoviert hat. Diese Nähe wäre in meinen Augen, wenn sie nicht ausdrücklich erwähnt würde, problematisch – vor allem, da der Abschnitt "Kritik" hinter meinen Erwartungen zurückbleibt: "Diese Diskussion würde hier zu weit führen", heißt es genau da, wo es spannend wird. Auch Frey lobt die Lesbarkeit der beiden Bände, was ich aus eigener Lektüreerfahrung bestätigen kann.

Bei dem Auszug aus Ernst Mayrs Alterswerk "Konzepte der Biologie" fehlt, sofern ich nichts übersehen habe, der Hinweis auf die Übersetzerin Susanne Warmuth: Wenn der Kommentator Thomas Grüter vermerkt, das Buch sei "ausgezeichnet geschrieben", meint er damit ja auch den deutschen Text. Eigentümlich finde ich die von Grüter zitierte Behauptung Mayrs, die These von Thomas Kuhn über die Sprunghaftigkeit des wissenschaftlichen Fortschritts treffe auf die Biologie nicht zu; sie sei mit dem gradualistischen Denken eines Darwinisten unvereinbar. Das leuchtet mir überhaupt nicht ein, und so werde ich wohl noch einmal genauer bei Mayr nachlesen müssen, wie er darauf kommt.

Der Theologe Wolfgang Achtner bespricht gleich zwei Werke, nämlich Volker Sommers "Darwinistisch denken. Horizonte der Evolutionsbiologie" und Franz M. Wuketits' "Der freie Wille. Die Evolution einer Illusion". In beiden Fällen ist er sehr kritisch: Sommer wirft er vor, zu einer "Hetzjadg auf die Theologie" zu blasen und ein Zerrbild der Theologie zu zeichnen; andere Teile des Buches findet er hingegen gelungen. An Wuketits kritisiert er vor allem dessen These, die Idee der Willensfreiheit stelle "in den Händen des Staates mit seinem Gewaltmonopol eine Gefahr dar", denn sie könne vom Staat instrumentalisiert werden - eine Behauptung, die nach Achtners Verständnis den übrigen Thesen widerspricht. Obwohl ich Sommer und Wuketits philosophisch näher stehe als Achtner, fand ich diese Kommentare aus Theologensicht durchaus anregend.

Mario Bunges und Martin Mahners Buch "Über die Natur der Dinge" wird gleich von zwei Kommentatoren beleuchtet. Ich bin bei meiner eigenen Lektüre vor einigen Jahren leider irgendwann stecken geblieben, werde mir den Band nun aber erneut vorknöpfen. Das ist ein hartes Stück Arbeit, wie auch Michael Blume vermerkt; es lohnt sich aber. Der Religionswissenschaftler Blume ist zwar mit einigen Aspekten des Materialismus und ontologischen Reduktionismus der Autoren und vor allem mit ihrem ontologischen Werterelativismus nicht einverstanden, lobt aber ihre Begriffsarbeit. Auch der Mathematiker Elmar Diederichs geht mit den Schlussfolgerungen der Autoren in Sachen Bewusstsein und freier Wille nicht mit. Er hält die Position des wissenschaftlichen Materialismus für schwächer, als Bunge und Mahner sie darstellen, hat das Buch aber ebenfalls mit Gewinn gelesen: Eine "mutige These" ist ihm allemal lieber als unangreifbare Beliebigkeit.

Das letzte vorgestellte Buch ist ein Sammelband, herausgegeben von Edgar Dahl: "Brauchen wir Gott? Moderne Texte zur Religionskritik". Die Auszüge stammen aus den Beiträgen von (wieder einmal) Gerhard Vollmer und Hans Albert. Der Kommentator Josef Honerkamp findet die atheistischen Argumente Vollmers zwar stringent und Alberts Kritik an der Intoleranz vieler religiöser Menschen berechtigt, weist aber darauf hin, dass die meisten Menschen – ob gläubig oder nicht – nicht etwa intellektuelle Konstistenz, sondern Geborgenheit suchen: "Für eine Lebensberatung braucht man keinen Logiker oder Philosophen."

Fazit: Knapp 100 Seiten anregende Lektüre im Zeitschriftenformat – und für die Werke aus dem sonst etwas betulich wirkenden Hirzel-Verlag hoffentlich eine nachhaltige Verjüngungskur oder gar Wiederbelebung. Man darf gespannt sein, ob das Konzept ausgebaut und – wenn ja – welcher Buchverlag als nächstes zum Tanz eingeladen wird.

Übrigens ist weder unter den vorgestellten Autoren noch unter den Kommentatoren eine Frau. Dies ist ausdrücklich keine Kritik an der Auswahl, die die Redaktion getroffen hat; es widerspiegelt wohl einen echten Mangel an Wissenschaftlerinnen und Philosophinnen, die "große Fragen" stellen und mitreißend und profund zu beantworten versuchen. Aber das bekommen wir auch noch hin.