Die Recherchepraxis freier Lektoren*, Übersetzerinnen, Autoren und Journalistinnen ...

... und daraus abgeleitete Anforderungen an den 3. Korb der Urheberrechtsreform

* Das andere Geschlecht ist jeweils mitgemeint.

Im Laufe des Jahres 2010 wird das Bundesministerium der Justiz (BMJ) einen Entwurf für den sogenannten „Dritten Korb“ der Urheberrechtsnovelle vorlegen. Zur Vorbereitung hat das BMJ bereits Anfang 2009 einen Fragebogen zur „Prüfung weiteren gesetzgeberischen Bedarfs im Bereich des Urheberrechts“ an eine Reihe von Interessenverbänden verschickt, in dem es unter anderem um das Recht auf Privatkopien und um die Verbesserung des Zugangs zu wissenschaftlichen Informationen sowie verwaisten Werken ging.

Wie die Lektüre der Stellungnahmen der Verbände (Links: s. u.) zeigt, sind die Interessen einer gar nicht so kleinen, für die Wissensgesellschaft unabkömmlichen Gruppe von Nutzern bislang noch nicht ausreichend gewürdigt worden, nämlich der freiberuflichen Publizisten. Das liegt zum Teil daran, dass die Berufsverbände dieser Wissensprüfer, -filterer, -verdichter und -vermittler das Thema verschlafen oder falsch angepackt haben, und zum Teil an unserer Position zwischen allen Stühlen: Wir sind keine reinen Privatnutzer, aber auch keine Gewerbetreibenden, die mit der Nutzung digitaler Medien erkleckliche Gewinne erwirtschaften.


Ich bin Lektorin, Literaturübersetzerin und Autorin anspruchsvoller populärwissenschaftlicher Sachtexte. Da viele Menschen sich unter einer freien Lektorin immer noch eine Kommaverschieberin vorstellen und glauben, Literaturübersetzer wären „nur“ für Belletristik zuständig, möchte ich hier meine berufliche Praxis, die mit ihr verbundenen wirtschaftlichen Nöte und rechtlichen Interessen sowie die daraus abgeleiteten Erwartungen an den 3. Korb relativ ausführlich schildern.

Zwar sind die genannten Berufsgruppen außerordentlich heterogen, sodass meine Arbeitssituation sich nicht ohne Weiteres generalisieren lässt, aber zum einen kenne ich nur die eigene Lage gut genug, um mich auf sicherem Terrain zu bewegen, und zum anderen gibt es zahlreiche weitere Schul- und Sachbuch-, Fachtext- und Wissenschaftslektorinnen, -übersetzer und -autorinnen, deren Praxis vermutlich große Schnittmengen mit der meinen aufweist. Dennoch möchte ich betonen, dass ich hier nicht im Namen eines Verbands oder eines Kreises von Kollegen Stellung beziehe, sondern ausschließlich für mich selbst spreche.

Der A.-H.-Effekt: Von der Notwendigkeit eines legalen, zügigen und finanzierbaren Zugangs zu digitalen Texten

Ich möchte mit einem plakativen, ja drastischen Beispiel beginnen, das auf den ersten Blick nichts mit dem 3. Korb zu tun hat. Vor einigen Jahren sah ich mich im Rahmen einer Sachbuchübersetzung – es war ein Buch über Naturwissenschaftler im „Dritten Reich“ – gezwungen, unter (wie üblich) großem Zeitdruck einige Zitate aus den Hauptwerk jenes Mannes zu ermitteln, der ab 1933 Reichskanzler war. Dieses Werk ist in Deutschland bekanntlich nicht im Handel, zumindest nicht oberhalb der Ladentheke. Die Universitätsbibliotheken halten es in ihren Giftschränken vor, und wer nachweislich einen seriösen Forschungsauftrag hat, dem wird Einblick gewährt. Als freiberufliche Sachbuchübersetzerin ohne Anbindung an ein Universitätsinstitut war mir dieser Weg versperrt. Ich hätte wohl meinen Ansprechpartner im Verlag um einen Brief bitten können, der mich als beauftragte Übersetzerin eines historischen Sachbuchs ausweist, in dem diese Zitate vorkommen, und vermutlich wäre es mir auch gelungen, die Bibliothekare mit diesem Dokument von der politischen Unbedenklichkeit meines Begehrens zu überzeugen – aber das hätte mehr Zeit gekostet, als mir zur Verfügung stand.

Was habe ich also getan? Eine Suchmaschine befragt und binnen Minuten eine Website ausfindig gemacht, die das fragliche Werk in digitalisierter Form in allen Kultursprachen der Welt zum kostenlosen Download bereithält: ein Islamisten-Portal. Angewidert vom Umfeld habe ich die Seite schnell wieder verlassen … nur um am nächsten Tag zurückzukehren und einen Download vorzunehmen, denn dies war nun einmal die schnellste und bequemste Lösung für mein Problem, die fraglichen Textstellen zu finden und in meiner Übersetzung korrekt zu zitieren. Jedes Mal, wenn mein Blick auf diese Datei fällt, ist mir wegen ihrer Herkunft unbehaglich zumute.

Der Zusammenhang  mit dem 3. Korb: In meinem Beruf ist die Versuchung groß, den schnellsten, bequemsten Weg zu wählen, um auf digitale Texte zuzugreifen; die Herkunft der Dateien ist im Zweifelsfall zweitrangig – und zwar nicht, weil wir alle Datenpiraten oder moralisch verkommen wären oder uns nicht zum Gang in die Bibliothek aufraffen könnten, sondern weil wir knappe (und immer knapper werdende) Abgabetermine einzuhalten haben und Recherchekosten im Allgemeinen nicht gesondert vergütet werden.

Wir alle sind Nutzer

Ganz gleich, ob ich nun gerade ein Lektorat, ein Übersetzungsprojekt oder einen Schreibauftrag verfolge, ob ich also gerade Urheberin bin oder nicht: In erster Linie bin ich Nutzerin von wissenschaftlichen Informationen. Was z. B. das Aktionsbündnis „Urheberrecht für Bildung und Wissenschaft“ oder das MPI für Geistiges Eigentum in ihren Stellungnahmen über Wissenschaftler sagen, gilt insofern auch für uns: Niemand schöpft aus dem Nichts. Ob wir nun selbst neue Werke schaffen oder die Schöpfungen anderer bearbeiten: an erster Stelle lesen wir – lesen nicht im Sinne eines passiven Anstarrens und Konsumierens, sondern im Sinne von rezipieren, aktiv aufnehmen, kritisch überprüfen, reflektieren.

Unser Berufsethos verpflichtet uns zur gewissenhaften Recherche. Gerade bei Schulbüchern oder Nachschlagewerken, aber auch bei anspruchvollen Sachbüchern und Zeitschriftenartikeln müssen die Leser sich darauf verlassen können, dass die Informationen zutreffend und aktuell sind und nicht einfach aus der Wikipedia abgeschrieben wurden. Die Verleger verlassen sich ebenfalls darauf, da andernfalls ihr Renommee leidet. Um diese Qualität zu gewährleisten, investieren freie Publizistinnen ständig in Fachliteratur und Weiterbildung; bei mir ist dies einer der bedeutendsten Posten der Betriebsausgaben.

Literaturbeschaffung auf dem „grauen Weg“

Da meine Projekte (selbst innerhalb des vermeintlich schmalen Segments „naturwissenschaftliche Sachtexte“) ein breites Themenspektrum abdecken, kann ich mich unmöglich auf den Erwerb von Nachschlagewerken und das Abonnement von zwei, drei Fachzeitschriften beschränken: Ich muss mir darüber hinaus zahlreiche wissenschaftliche Artikel beschaffen, um meine Aufgabe erfüllen zu können. Im Jahr 2009 habe ich beispielsweise Projekte aus den Fachgebieten Anatomie, Physiologie, Genetik, Archäologie und Anthropologie, Paläontologie, Wissenschaftsgeschichte, Evolutionsbiologie und Biostatistik bearbeitet.

Literaturrecherchen werden, wie gesagt, im Allgemeinen nicht separat vergütet; daher müssen sie schnell, kostengünstig und bequem vonstatten gehen. Wer wie ich keinen Anschluss an ein Uni-Institut hat, stößt dabei an Grenzen – und das trotz des Privilegs, in einer Großstadt wie Köln zu leben, in der unter anderem die „Zentralbibliothek Medizin“ sowie zahlreiche städtische, universitäre und außeruniversitäre Bibliotheken angesiedelt sind (die natürlich alle unterschiedliche Öffnungszeiten, Entleihsysteme, Zugangsberechtigungen usw. haben und in deren Katakomben ich in den letzten zwanzig Jahren unglaublich viel Lebenszeit verbrannt habe).

Ständig suche ich im Internet nach Manuskripten, die die Autoren im Rahmen des „grünen Wegs“ (Open-Access-Selbstarchivierung) frei zugänglich machen, nutze aber auch Lecks, beispielsweise Literatur-Downloadseiten für Universitätsseminare, bei denen versehentlich der Passwortschutz vergessen wurde. Häufig bitte ich Freunde und Kollegen, die einem Institut angehören, mir über ihren Account bestimmte Artikel als PDF zu besorgen: ein ziemlich „grauer Weg“, auf dessen Begehung ich aber nicht verzichten kann, ohne dass entweder die Qualität oder die Produktivität meiner Arbeit massiv leidet.

Was heißt „angemessen“?

In einigen Stellungnahmen zum 3. Korb, z. B. der des Börsenvereins, wird betont, dass heutzutage die meisten Verleger wissenschaftlicher Literatur von sich aus einen digitalen Bezug von Publikationen zu „angemessenen Bedingungen“ ermöglichen, sodass z. B. die Erstellung digitaler Kopien durch Bibliotheken überflüssig sei. Der Begriff der Angemessenheit wird (beispielsweise vom MPI für Geistiges Eigentum) zu Recht problematisiert. Ein Beispiel aus einem meiner letzten Projekte:

In einer Enzyklopädie prähistorischer Lebewesen wurden Hunderte von Gattungen vorgestellt; bei etwa jeder zweiten Gattung kam mir irgendein Detail (beispielsweise die taxonomische Einordnung, die Lebenszeit oder ein wissenschaftlicher Artname) so seltsam vor, dass ich recherchiert habe, um die Fakten ggf. richtigzustellen. Laut Suchmaschine taucht ein Name einer kürzlich in China entdeckten Gattung in einem aktuellen Fachartikel in der Zeitschrift Palaeobiodiversity and Palaeoenvironments aus dem Verlag Springer (Berlin/Heidelberg) auf. Ich kann eine Kopie des Artikels online erwerben – für 34,00 $. Aus dem Artikel gewinne ich womöglich eine Information, die sich in 20—30 Zeichen meines Textes niederschlägt, für die ich im Falle einer Übersetzung 20—30 Cent, im Falle eines Lektorats vielleicht 7—10 Cent erhalte. An jedem gewöhnlichen Arbeitstag stoße ich auf drei, vier, fünf wissenschaftliche Quellen, die ich nur gegen ein Entgelt in dieser Größenordnung einsehen könnte. Bei einem Tagesumsatz von etwa 150 bis 200 Euro ist das unmöglich.

(Wer glaubt, dieser Tagesumsatz sei zu niedrig angesetzt, sehe sich die aktuellen Statistiken an: In der Künstlersozialversicherung liegt das mittlere Jahreseinkommen im Bereich „Wort“ derzeit bei 16.232 Euro. Der Jahresumsatz freier Lektorinnen und Lektoren lag laut VFLL-Umfrage im Jahr 2008 bei gut 28.000 Euro, der Gewinn bei 17.000 Euro. Bei den Literaturübersetzern sieht es nicht besser aus.)

Entweder bleibt die mutmaßlich falsche Schreibung des Gattungsnamens stehen, oder ich verweise das Problem zur Klärung an den Verlag zurück (was diesen nicht glücklich macht, denn er hat mich beauftragt, damit ich solche Probleme löse), oder ich bitte wieder einmal einen Bekannten an einer Universität, mir zuliebe das Recht zu beugen.

Dies ist kein Einzelfall, und ich bin mir sicher, dass es vielen Kollegen ähnlich geht. Da ist das zu übersetzende Lexikon der Vogelwelt, und der Stammbaum der Vögel ist gerade im Umbruch: also Hunderte von Recherchen, die sich möglichst nicht auf einen Besuch der Wikipedia beschränken sollten. Da ist die Enzyklopädie der Ökosysteme, für die ich über Monate hinweg Artikel verfasse, für die mir jeweils etwa 48 Stunden zur Verfügung stehen – nicht genug für Bibliotheksbesuche. Da ist das fachlich und literarisch anspruchsvolle evolutionsbiologische Sachbuch, das ich in zwei Monaten übersetzen muss, damit ein günstiger indischer Verlagsdienstleister sich für den Satz sechs Monate Zeit lassen kann. Da ist die aus dem Englischen übersetzte Kulturgeschichte mit Dutzenden von Zitaten deutscher Philosophen – ohne präzise Quellenangaben, sodass ich nach dem Besuch von sechs, sieben Bibliotheken und der kursorischen Lektüre Aberhunderter Buchseiten immer noch gezwungen bin, viele der Zitate zu paraphrasieren, was die Qualität des Werkes mindert.

Verwerter nutzen die Vorteile der Digitalisierung – und lagern die Nachteile aus

Es ist ja nicht so, als hätten Verlage grundsätzlich etwas gegen Internet, Digitalisierung und Globalisierung: Sie nutzen die neuen Möglichkeiten weidlich, um ihren Workflow zu optimieren, Personalkosten zu reduzieren und Risiken auszulagern. Sie erwarten von ihren freien Lektoren und Übersetzerinnen, dass sie die aktuellen Versionen ihres DTP-Programms vorhalten und beherrschen, mithin einen Teil der Herstellung übernehmen; sie verkürzen die Produktionszyklen, sodass beispielsweise für herkömmliche Fernleihen gar keine Zeit bleibt; sie beauftragen günstige Dienstleister in Schwellenländern, was sich nachteilig auf die Qualität der von uns zu bearbeitenden Werke auswirken, die Kommunikation erschweren und auch unsere Honorare drücken kann. Doch für die Recherchekosten, die ihren freien Mitarbeitern bei einer gewissenhaften Einhaltung aller urheber- und verwertungsrechtlichen Bestimmungen entstehen, kommen sie nicht auf.

Freie Lektorinnen, Übersetzer, Autorinnen und Wissenschaftsjournalisten stehen somit ständig in dem Dilemma, entweder das Recht zu beugen oder ihr Arbeitsethos über Bord zu werfen, also unvollkommene Arbeit abzuliefern und – überspitzt formuliert – die Wissensgesellschaft zur Halbwissensgesellschaft verkommen zu lassen. Die Digitalisierung und die durch sie ermöglichte Veränderung der verlagsseitigen Workflows setzen uns Freie unter einen ungeheuren Zeitdruck, dem wir auf die Dauer nur dann ohne Qualitätseinbußen standhalten können, wenn wir unsererseits die Vorzüge der Digitalisierung (die Beschleunigung der Dokumentenübermittlung, den Komfort der Volltextsuche, die Möglichkeit zur Zitatextraktion usw.) optimal nutzen.

Keine Freibiermentalität

Die Verwerter sind unsere Auftraggeber, und wenn es uns gut gehen soll, muss es auch ihnen gut gehen. Daher kann die Lösung nicht darin bestehen, sie ihrer Verwertungsmöglichkeiten zu berauben. Ihre alten Geschäftsmodelle sind durch die Digitalisierung gefährdet, und auch wenn es keinen „Denkmalschutz für antiquierte Geschäftsmodelle“ gibt, um den Börsenblatt-Redakteur Michael Roesler-Graichen zu zitieren, kann ein massenhaftes Verlagssterben nicht in unserem Interesse sein.

Doch eines lehren die Stellungsnahmen zum BMJ-Fragebogen in aller Deutlichkeit: In der Lobbyarbeit müssen die eigenen Bedürfnisse im Vordergrund stehen. Wir freie Publizisten benötigen für unsere Arbeit einen raschen, bequemen, günstigen, kalkulierbaren und weder thematisch noch quantitativ beschränkten Zugang zu wissenschaftlichen Publikationen, also so etwas wie eine „Verlagsdienstleister-Kulturflatrate“. Ich wäre gerne bereit, dafür pauschal z. B. zwei Prozent meines Jahresgewinns zu zahlen.

Anforderungen an den 3. Korb

Solange eine derartige Flatrate – die sicher schwierig zu organisieren wäre – nicht in Sicht ist, werde ich Initiativen unterstützen, die

Umgekehrt beziehe ich Stellung gegen alle Versuche,


Links

Fragebogen des BMJ

Stellungnahmen:

Börsenverein des deutschen Buchhandels

Max-Planck-Institut für Geistiges Eigentum, Wettbewerbs- und Steuerrecht

Aktionsbündnis Urheberrecht für Bildung und Wissenschaft

Deutscher Bibliotheksverband

Arbeitskreis Intellectual Property der BITKOM

Verband Deutscher Drehbuchautoren

Verbraucherzentrale (Bundesverband)

Deutscher Kulturrat

Bundesrechtsanwaltskammer

Deutscher Richterbund

Studentenwerk

Bundesverband Digitale Wirtschaft

eco - Verband der deutschen Internetwirtschaft e. V.

DJV - Deutscher Journalistenverband

VPRT - Verband privater Rundfunk- und Telemedien e. V.

ANGA - Verband Deutscher Kabelnetzbetreiber e. V.


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