Im ersten Semester meines Biologiestudiums in Köln hatte ich während der morgendlichen Vorlesung über "Allgemeine Botanik" ein Aha-Erlebnis, das bis heute nachwirkt: Professor Bergmann, der uns mit der Anatomie der Gefäßpflanzen vertraut machen sollte, zeichnete mit weißer und farbiger Kreide souverän und routiniert einen transparenten Ausschnitt eines jungen Gefäßpflanzensprosses an die Tafel, um den Verlauf der Leitbündel zu veranschaulichen, in denen Pflanzen Wasser (im sog. Xylem) und Assimilate (im Phloem) zwischen ihren Organen hin und her transportieren.

Das elegante säulenförmige Gebilde, das vor meinen Augen entstand, erinnerte mit seinen fusionierenden und sich wieder verzweigenden Spitzbögen eher an gotische Sakralarchitektur als an etwas Organisches – in einer Stadt wie Köln vielleicht eine besonders naheliegende Assoziation. Das Fachvokabular verstärkte noch den Eindruck, ein architektonisches Meisterwerk vor sich zu haben: Die Gesamtheit der Leitgewebe einer Pflanze wird als "Stele" bezeichnet.

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon jahrelang Pflanzen gesammelt, bestimmt, gepresst, beschnuppert, ihre Vielfalt bewundert usw. Doch erst durch den Anblick dieser klar strukturierten, funktionellen und ästhetisch bewegenden Konstruktion ging mir auf, was all diese unterschiedlichen Gefäßpflanzen eint, nämlich: ihre allgemeine ökologische Nische, ihre Daseinsform gewissermaßen – und die Struktur, die damit zwangsläufig einhergeht.

Pflanzen sind stationäre, modulare Lebensformen

aufgeschnittener Radicchiokopf
Neue Blätter werden an der Spitze angelegt, im Schutz ihrer Vorgänger.

Pflanzen benötigen Licht, Luft, Wasser und Nährstoffe, um Photosynthese treiben zu können. Sie sind im Boden verankert, können also nicht einfach den Ort wechseln, wenn eine Ressource knapp wird oder Gefahr droht – zum Beispiel durch einen Fressfeind. Also müssen sie modular aufgebaut sein: Fällt ein Modul aus (wird ein Blatt gefressen, abgerissen oder von Pilzen befallen), so beeinträchtigt das die Funktion des Ganzen nicht weiter; es wird einfach ersetzt. Wird der Organismus älter und größer, so passt sich die Zahl der Module an den veränderten Stoffewechselbedarf an, und zugleich verändert sich ihre Struktur ein wenig, um den Erfordernissen der Statik gerecht zu werden: Die Pflanze darf nicht unter ihrem eigenen Gewicht zusammenbrechen oder bei jeder etwas schärferen Windbö aus ihrer Verankerung gerissen werden.

Die Anlage neuer Module erfolgt am besten an der Spitze der mehr oder weniger senkrecht stehenden, im Boden verankerten Sprossachse. Die empfindliche Wachstumszone ist so durch mehrere Lagen aus noch nicht entfalteten neuen Blättern (Knospen) vor dem Verdorren, Erfrieren, Versengen etc. geschützt. Läge die Wachstumszone jedoch genau am Scheitelpunkt der Sprossspitze, so wäre sie zumindest ganz am Anfang erheblichen mechanischen Belastungen ausgesetzt, wenn die Spitze sich nach dem Auskeimen des Samens durch das Erdreich an die Oberfläche schiebt. Außerdem wäre dann nicht gewährleistet, dass der Spross ringsum gleichmäßig wächst und neue Module anlegt. Daher ist die Wachstumszone – das Apikalmeristem – ringförmig knapp unterhalb des Scheitelpunkts angeordnet.

Warum heißen Gefäßpflanzen Gefäßpflanzen?

Die Module müssen so angeordnet sein, dass sie sich gegenseitig möglichst wenig behindern: Die oberen Blätter sollten den unteren zum Beispiel nicht das Licht rauben. Je nach Tages- und Jahreszeit müssen verschiedene Stoffe von einem Organ in ein anderes transportiert werden: Im Frühjahr steigen die in den Wurzeln eingelagerten organischen Substanzen den Spross hinauf, wo sie zum Aufbau neuer Module oder zur Verstärkung der bereits vorhandenen Strukturen eingesetzt werden. Die Photosyntheseprodukte müsse hingegen von den Blättern ein- und abwärts wandern, um die übrigen Organe zu versorgen. Während der Transport organischer Stoffe oft auch gegen das jeweilige Konzentrationsgefälle funktionieren muss, kann das Wasser, das die Wurzeln aufnehmen, einfach durch die kontrollierte Verdunstung an den Blättern angesaugt werden. Daher ist es sinnvoll, diese Transportwege zu trennen: Wasser steigt kapillar durch stabile Röhren aus abgestorbenen länglichen Zellen auf, während organische Stoffe von spezialisierten lebenden Zellen aktiv ans jeweilige Ziel gepumpt werden. Voila: Xylem und Phloem, zwei spezialisierte Gewebetypen, die gemeinsam die Leitbündel bilden.

Zweig mit Knospen
kreuzgegenständige Knospen

Schachtelhalm
wirtelständiger Schachtelhalm

Blütenstand
Schraubige Anordnung: Die älteste Knospe blüht zuerst auf.

Diese Leitbündel müssen im Spross so angeordnet sein, dass von den Hauptverkehrsadern Nebenstraßen in jedes Modul abzweigen können, das zu versorgen ist oder das zur Produktion beiträgt. Fällt ein Modul aus, so darf dies den übrigen Stofftransport in der Pflanze nicht beeinträchtigen. Und diese Verkehrsführung muss bei der Anlage eines neuen Moduls im Apikalmeristem gleich mitorganisiert werden, ohne dass ein topologisches Durcheinander oder eine Sackgasse entsteht. Dies ist der Grund für die Querverbindungen zwischen den Leitbündeln, die Professor Bergmann in die Stele einzeichnete: Oberhalb jedes Blattstiels, in den eine "Blattspur" abzweigt, tut sich im Leitgewebe eine "Blattlücke" auf, die geschlossen werden muss, bevor dort das nächste Modul angelegt werden kann.

Die Blattstellung

Wie das Netz aus fusionierenden und sich verzweigenden Leitbündeln und Spuren genau aussieht, hängt vor allem von der Anordnung der Blätter am Spross ab: von der sogenannten Phyllotaxis. Manche Gefäßpflanzen bilden an genau entgegengesetzten Stellen des ringförmigen Apikalmeristems jeweils zwei Blattknospen gleichzeitig aus, die gegenüber den vorigen beiden Knospen um 90 Grad versetzt sind; so entsteht eine kreuzgegenständige Pflanze. Werden mehr als zwei Knospen gleichzeitig angelegt, so trägt die Pflanze Wirtel oder Quirle. Bei besonders vielen Arten entsteht aber jeweils nur eine einzige Knospe, die gegnüber ihrem Vorgänger zumeist um etwa 137,5 Grad versetzt ist. Warum das so ist und was für Folgen dieses Arrangement hat, ist Thema eines Artikels über die Phyllotaxis, in dem wir auch ein einfaches Projekt zur Erforschung dieser Strukturen vorstellen.