Zahllose Websites, Blogs, Bücher und Zeitschriften widmen sich naturwissenschaftlichen Themen – auch unserem Schwerpunktthema, den Mustern und Strukturen in der Natur. Warum diese Medienflut noch weiter anschwellen lassen, wo doch jeder Rundgang durch die nächste Bahnhofsbuchhandlung allerlei Belehrungslektüre des Typs "Warum ist die Banane krumm?" und Erwachsenenbilderbücher über die Magie des Goldenen Schnitts oder Schönheit in der Wissenschaft zutage fördert?

Strukturwissen statt Bildungssplitter 

Sonnenblume

Zumindest uns stellen viele dieser Werke nicht zufrieden. In all den Alltagsrätselbüchern werden in bestenfalls feuilletonistischer, schlimmstenfalls plagiatorischer Manier Kuriosa und Wissenshäppchen dargereicht; die nötigen Informationen zur Einordnung dieser Bildungssplitter wie Methoden- oder Quellenangaben werden aber eingespart. Mathematische Formeln werden eingedenk der (unseres Wissens unbewiesenen) Faustregel, dass jede von ihnen die Zahl der Käufer halbiere, prophylaktisch ganz vermieden. Vor allem aber fehlt der systematische Zusammenhang, sodass das Wissen fragmentarisch bleibt und das befriedigende Gefühl, eine echte Erkenntnis gewonnen und einen Teilbereich unserer Welt wirklich besser durchdrungen zu haben, sich nicht recht einstellen will. Auch über natürliche Strukturen wird zumeist recht unstrukturiert berichtet.

Oder aber die Autoren verfallen ins Gegenteil und bauen ein System auf, wo tatsächlich keines ist. Alles Mögliche soll durch den Goldenen Schnitt und ähnliche "heilige Proportionen", "geheime Codes" oder Weltformeln erklärt werden, und man reiht gefällige Hochglanzabbildungen äußerlich ähnlicher und ästhetisch ansprechender Strukturen aneinander, ohne danach zu fragen, ob sie auch durch ähnliche Mechanismen zustande gekommen sind. Die ohnehin kurzen Texte zu diesen bunten Bildern sind oft an Banalität, Schwulst und Ignoranz kaum zu überbieten.

Den Wald und die Bäume sehen!

RomanescoAm anderen Ende des Angebotsspektrums stehen Fachbücher und -aufsätze, deren Lektüre profunde Mathematikkenntnisse erfordert und in denen die faszinierende Vielfalt der natürlichen Phänomene völlig hinter der Abstraktion zurücktritt. Wir sind nicht formelscheu, aber für Nichtmathematiker ist es nun einmal unbefriedigend zu erfahren, dass die "am schnellsten wachsende Mode" bei diesem oder jenem nichtlinearen dynamischen System 0,147 beträgt, wenn nicht zugleich der konkrete physikalische, chemische oder biologische Mechanismus aufgeklärt wird, der zur Ausbildung des entsprechenden Musters führt. Um den Autor eines unserer derzeitigen Lieblingsbücher zu zitieren: "Die Muster eines Flusssystems und eines Netzhautnervs sind sich ähnlich und zugleich grundverschieden. Es reicht nicht aus, sie beide als fraktal zu bezeichnen und vielleicht noch ihre fraktale Dimension zu berechnen. Um ein Flusssystem erschöpfend zu erklären, müssen wir uns mit den komplizierten Prozessen beim Sedimenttransport, den wechselnden meteorologischen Bedingungen und der Geologie des jeweiligen Flussbetts vertraut machen – mit Faktoren also, die mit Nervenzellen nichts zu tun haben" (Philip Ball, The self-made tapestry. Pattern formation in nature, Oxford University Press 2004, S. 252). 

Ball weist zudem auf die Bedeutung der exakten Anfangs- und Randbedingungen für die konkrete Ausprägung eines Musters hin: Nur ihretwegen gleicht keine Schneeflocke einer anderen, gibt es keine zwei identischen Zebrafelle, Bäume oder Wolken. Gerade das Zusammenspiel von Regelmäßigkeit und individuellen Unterschieden macht den Reiz natürlicher Muster aus: Sie sind weniger perfekt und unendlich vielseitiger als die meisten industriellen Artefakte.

Ein bisschen Reduktionismus muss sein

Bienenwabe

Wie regelmäßig oder unregelmäßig bzw. wie einfach oder kompliziert ein System uns erscheint, hängt allerdings auch von dem Modell ab, mit dem wir an seine Beobachtung, Analyse und ggf. Simulation herangehen, und die Wahl des Modells wiederum wird von der Aufgabenstellung beeinflusst. Einem Soziologen oder Psychologen mag es kalt den Rücken herunterlaufen, wenn Menschenmassen in bestimmten aus der theoretischen Physik entlehnten Verkehrsmodellen zu bloßen Punktwolken, zu Dichteverteilungen oder quasi-atomaren Reiz-Reflex-Maschinen reduziert werden – aber unter Umständen reichen solche Modelle, um mit einfachsten Baumaßnahmen tödliche Massenpaniken verhindern. Manchmal verhalten Menschen sich "in erster Näherung" eben wirklich wie Teilchen in einem Partikelstrom.

Nicht, dass der Mensch in seiner ganzen Komplexität, als soziales, historisches, ökonomisches und kulturelles Wesen, uns nicht interessieren würde: Warum und wie er Muster wahrnimmt, wie frühere Gesellschaften sich auffällige natürliche Strukturen erklärt haben, wie diese Strukturen in die Mythologie Eingang gefunden und die Gelehrten vom Altertum bis in die Neuzeit zu Theorien angeregt haben, wird auf diesen Seiten immer wieder Thema sein.

Muster sind Ergebnisse von Prozessen

Nicht nur die menschliche Wahrnehmung und Erforschung von Mustern hat eine historische Komponente, sondern auch die Mehrzahl der Muster selbst: Man versteht sie erst, wenn man ihre Genese untersucht. Ein schönes Beispiel sind hexagonale Basaltmuster wie der berühmte "Giant's Causeway" in Nordirland, der tatsächlich wie ein gepflasterter Fußweg oder Damm für einen Riesen aussieht: Warum diese "Pflastersteine" alle ungefähr gleich groß und ähnlich geformt sind, erschließt sich erst, wenn man die Betrachtung um zwei Dimension erweitert, nämlich um die dritte Raumachse (in die Tiefe der Basaltschicht hinein) und die Zeitachse (in die Zeit zurück, als das Magma allmählich ausgekühlt und erstarrt ist). Und auf organische Strukturen wie Schneckenhäuser, Bienenwaben oder Blattanordnungen trifft ohnehin der berühmte Ausspruch des russisch-amerikanischen Naturwissenschaftlers Theodosius Dobzhansky zu: "Nichts in der Biologie ergibt einen Sinn außer im Licht der Evolution."

Do it yourself

Stärkesäulen

Da wir selbst viele Zusammenhänge besser begreifen, wenn es wirklich etwas zu greifen gibt, und auch beim Vortragen und Unterrichten immer wieder erfahren haben, wie hilfreich selbst gebaute Modelle oder Experimente sind, werden wir Ihnen zu möglichst vielen Themen Bastel- und Versuchsanleitungen präsentieren. Die Beobachtung und Analyse natürlicher Muster ist keine Geheimwissenschaft. Jeder, der ein wenig Neugier, Grips, Geschicklichkeit und Geduld mitbringt, kann sich beteiligen. Wir freuen uns über Rückmeldungen aller Art: Korrekturen, Verbesserungsvorschläge, Themenanregungen oder auch die Einsendung besonders gelungener (sowie spektakulär misslungener) Fotografien von Ihren Expeditionen in die Welt der Muster und Strukturen!