Das ist nicht schwer zu erraten: eine geschlossene Blüte, offenbar bei Nacht. Aber wieso schließen sich manche Blüten abends, und wie machen sie das?

Vor einigen Monaten habe ich ein paar Blaue Mauritius gekauft. Nicht die Briefmarken; das gibt meine Portokasse nicht her. Sondern die Balkonpflanze, die eigentlich Kriechende Winde heißt, obwohl sie nicht kriecht. (Wohin auch, im Balkonkasten?) Diese blau blühende Art, Convolvulus sabatius, ist eine enge Verwandte der allgegenwärtigen, ausbreitungswütigen und Gärtnern daher verhassten Ackerwinde (Convolvulus arvensis). Auf Ratgeberseiten für Balkongärtner wird sie einerseits als pflegeleicht gepriesen. Andererseits wird gewarnt: Die Kriechende Winde braucht Sonne, und an regnerischen oder düsteren Tagen hat man wenig von ihr, weil sie ihre Blüten einfach nicht öffnet. 

Während das vorige Foto die Pflanzen am Spätnachmittag zeigt, wenn die Temperatur sinkt und die Sonne hinter den Häusern verschwunden ist, sehen wir sie hier - aus ähnlicher Perspektive - am Vormittag im Sonnenschein:

Die Trichterblüten wirken ein wenig wie Windräder; die Falten im Gewebe haben einen Drehsinn - und zwar in jeder Blüte denselben. Bei der folgenden, noch nicht vollständig geöffneten Blüte vermitteln die geschwungenen Rippen und Falten eine erste Ahnung vom Mechanismus der Öffnung:

Hier zwei nahezu vollständig geöffnete und eine noch etwas faltige Blüte. Die blaue Farbe ist nicht lichtecht, sodass man ältere Blüten am Rosa- oder Violett-Ton erkennt. Ein weiterer Unterschied zwischen dem älteren Exemplar oben links und den anderen beiden: Seine Staubfäden oder Stamina haben offenbar eine Menge Blütenstaub oder Pollen verloren, der nun im Trichter liegt. Der Pollen enthält die männlichen Gametophyten, die irgendwie zum weiblichen Teil einer anderen Blüte gelangen müssen, um diese zu befruchten. Diese Aufgabe übernehmen bei den Winden tagaktive Insekten. Und da haben wir schon einen möglichen Grund für die nächtliche Schließung: Nachts kommt ohnehin kein geeignetes Insekt vorbei, und der wertvolle Pollen könnte dem Wind oder Regen zum Opfer fallen. So aber bleibt er im Trichter, und er bleibt trocken.

Außerdem sehen wir hier Knospen in verschiedenen Stadien, darunter eine (unten rechts), die sich sehr bald öffnen wird: 

Hier im Vordergrund - unscharf - eine deutlich jüngere Knospe. Ihnen allen ist ein Drehsinn gemeinsam; sie sind linksgängig gewunden. In der weit geöffneten Blüte dahinter sehen wir noch einmal die Staubfäden - und dazwischen einen Stempel, das weibliche Geschlechtsorgan der Blüte:

Zurück zu den Knospen: In der Seitenansicht ist die linksgängige Helix gut zu erkennen:

Zählt man die weißen Rippen, so sind es stets fünf: Die Blüten der Blauen Mauritius sind fünfstrahlig. Verfolgt man die Rippen, so winden sie sich gegen den Uhrzeigersinn. Seltsamerweise hat man aber bei den geöffneten Blüten (oben im dritten Bild) den Eindruck, dass die "Windräder" im Uhrzeigersinn gedreht sind. Und tatsächlich bezeichnen Gärtner und Botaniker solche Blüten als rechtsdrehend. Wie kommt das? Es ist, wie ich hier am Beispiel von Spiralnudeln zeigen möchte, eine Frage der Perspektive.

Beide Pasta-Sorten (Fusilli und Eliche) sind eindeutig rechtsgängige Schrauben, ganz wie normale Schrauben aus dem Baumarkt. Aber von oben betrachtet ergibt sich ein anderes Bild: Nun scheint die Nudel gegen den Uhrzeigersinn gedreht. 

Bei den Winden ist es genau umgekehrt, aber das Prinzip ist dasselbe: Wenn ich - wie ein Gärtner - von vorn oder oben auf eine Blüte blicke, sehe ich eine Windung im Uhrzeigersinn. Aus der Perspektive der Pflanze selbst verläuft die Drehung jedoch gegen den Uhrzeigersinn. Wenn ein Physiker, Mathematiker oder Ingenieur mit einem Gärtner oder Botaniker über Windungen und Drehsinne redet, kommt fast zwangsläufig Verwirrung auf.

Die Öffnung der Windenblüte läuft ähnlich ab wie ein alltäglicher, uns allen vertrauter Vorgang:

Die Rolle der Faltregenschirm-Rippen übernehmen hier die fünf Rippen der Trichterbüte - und das Gewebe zwischen ihnen. Die Rippen sind anfangs zwar nicht zusammengeklappt, aber doch kürzer als im Endzustand. Sie strecken sich, und das zarte Gewebe zwischen ihnen entfaltet sich. Die Blüten der meisten Pflanzenarten öffnen sich ziemlich schnell: in fünf bis 30 Minuten. 

In der Fachliteratur werden mehrere Mechanismen angeführt, mit denen sich Blüten öffnen und schließen können. Die beiden für uns wichtigsten sind 

  • die reversible Akkumulation von Ionen oder Zuckern in den Blütenblättern, die zu einem steigenden Druck (Turgor) in den Zellen und damit zu einer Streckung führt, und
  • ungleich starkes Wachstum der Epidermis - der obersten Zellschicht - an der Innen- und der Außenseite der Blütenblätter.

Die beiden Mechanismen schließen einander nicht aus. Um sie zu verstehen, muss man wissen, was eine Pflanzenzelle von einer tierischen Zelle unterscheidet. Zum einen nimmt das Zytoplasma - jenes Gel, in dem sich alle Lebensvorgänge abspielen und in dem der Zellkern und alle Organellen liegen - nur einen schmalen Saum am Rand der Zelle ein; der Rest ist mit einer riesigen Vakuole gefüllt, einer Flüssigkeitsblase. Zum anderen ist die Zelle nicht nur von ihrer Zellmembran umgeben: Außerhalb der Membran liegt die Zellwand, ein wirres, elastisches Geflecht aus faserigen Kohlenhydraten wie Zellulose und einigen Proteinen.

Je mehr Wasser in der Vakuole ist, desto fester drückt der Turgordruck das Zytoplasma und die Zellmembran an die Zellwand. Diese reagiert mit einer Streckung ihrer Fasern, bis der elastische Wanddruck dem Turgordruck entspricht. So wird die Zelle größer, und zugleich ist der Druck ein Signal, der einen Umbau der Zellwand auslösen kann: Die Quervernetzung zwischen den Fasern wird geschwächt, sodass sie weiter auseinanderweichen können. In der neuen, entspannten Position vernetzen sich die Fasern wieder, und es werden weitere Fasen in die vorübergehend dünnere Wand eingelagert, bis sie wieder stabil ist.

Somit ist es für beide Mechanismen wichtig, dass zum richtigen Zeitpunkt, nämlich kurz vor der Blütenöffnung, osmotisch wirksame Ionen und Moleküle in bestimmte Zellen in den Rippen und an der Innenseite der Blütenblätter transportiert werden, damit die Blüte insgesamt und insbesondere ihre Innenseite sich streckt. Die Zucker und die zu Zuckern zerlegbaren Kohlenhydrate stammen aus anderen Pflanzenteilen, denn die Blüte selbst betreibt keine Photosynthese. Zum Schließen muss der Turgordruck in diesen Zellen verringert und in Zellen an der Außenseite des Blütenblatts erhöht werden; auch hierzu sind aktive Transportvorgänge nötig.

Als Auslöser für das Öffnen und Schließen kommen vor allem steigende oder fallende Temperaturen und wechselnder Lichteinfall infrage. Bei den Winden ist es wohl das Licht. Zwischen Auslösereiz und Reaktion vermitteln vermutlich Pflanzenhormone wie Gibberellinsäure oder Ethylen (C2H4) - das Zeug, nach dem Friedrich Schiller süchtig war, weshalb er faulende Äpfel in seiner Schreibtischschublade aufbewahrte. Sie aktivieren beispielsweise Kanäle in den Zellmembranen, durch die Wasser in die Zellen hinein oder aus ihnen heraus transportiert werden, und regulieren die Menge der Enzyme, die pflanzentypische Kohlenhydrate wie Stärke zu osmotisch wirksamen, also Wasser anziehenden Zuckern abbauen.

Es kann noch andere Gründe für die Schließung von Blüten geben als den oben erwähnten Schutz des Pollens zu Zeiten, in denen ohnehin kein Bestäuber vorbei kommt. Bei einigen Blütenpflanzen ist nachgewiesen, dass bereits bestäubte Blüten sich rascher schließen als die noch unbestäubten. So erhöht die Pflanze die Wahrscheinlichkeit, dass ein Insekt eine Blüte ansteuert, die noch auf die Abgabe oder Aufnahme von Pollen wartet. Das ist zum Beispiel für den eingangs erwähnten nahen Verwandten der Blauen Mauritius nachgewiesen, die Ackerwinde:  

Die Ackerwinde ist übrigens ein sogenannter Eintagsblüher; ihre Blüten welken nach einem Tag. Als ich das las, wurde ich neugierig: Ist das bei der Blauen Mauritius auch der Fall? Oder ist ihre Blütenpracht üppiger, weil sich die Blüten an mehreren Tagen öffnen, bevor sie welken? Der oben gezeigte, wohl durch Verbleichen entstehende Farbunterschied - junge Blüten eher blau, ältere eher rosa-violett - ließ mich vermuten, dass die Blüten mindestens zwei Tage durchhalten. 

Also habe ich gestern vier Blüten mit einem schwarzen Edding markiert und heute nachgesehen. Von vier mit einem Punkt am Rand versehenen Blüten habe ich drei bei bester Gesundheit angetroffen. Hier eine von ihnen (Markierung oben bei 11 Uhr):

Ihre Farbe wirkt immer noch recht frisch, sie hat sich nicht völlig entfaltet, und im Trichter hat sich der Blütenstaub angesammelt, der während der Nacht von den Staubfäden gefallen ist. Die Blaue Mauritius ist mithin kein Eintagsblüher.

Und wie geht es weiter mit den Blüten, wenn ihre Zeit abgelaufen ist - Befruchtung hin oder her? Im Abschlussbild sehen wir verwelkte Blüten in mehreren Stadien. Anfangs haftet der wieder zusammengelegte, nun aber nicht mehr ordentlich aufgerollte Trichter noch am Kelchgrund. Dann fällt er ab, und es bleibt ein kleiner, unauffälliger Kelch übrig: 

Auch das Welken ist kein passiver Vorgang, keine bloße Austrocknung. Vielmehr werden alle anderweitig verwertbaren Stoffe, vor allem Zucker und Kohlenhydrate, aktiv aus den Blütenblättern abgezogen, bevor die Blüte entweder ganz zugrunde geht oder anfängt, aus ihren befruchteten Samenanlagen Samen herzustellen.

Gärtner empfehlen, diese hellbraunen Kelche regelmäßig abzuknipsen, weil sie das Erscheinungsbild der Blauen Mauritius beeinträchtigen. Aber ehrlich gesagt habe ich mit meiner Zeit Besseres zu tun. Zum Beispiel Fachliteratur über Blütenöffnungs- und -schließmechanismen zu lesen.