Eigentlich ist es eine Frechheit, ein solches Durcheinander als "Muster des Monats" zu bezeichnen. Dennoch: Was mag dieses Wirrwarr, diese Anti-Struktur sein?

Hier ein zweites ... tja ... "Exemplar", das ich - wie das erste - im Urlaub auf Gran Canaria am Straßenrand gefunden habe:

Es handelt sich um einen für die mittleren Höhen der Nordseite Gran Canarias typischen Organismus: eine Bartflechte. Doch Moment: Sind Flechten nicht diese runden oder gelappten, immerhin einigermaßen symmetrischen Gebilde auf Steinen und anderen Oberfläche - wie hier auf diesem kanarischen Zaunpfahl?

Ja, auch das ist eine Flechte. Aber diese symbiotischen Organismen, die aus einem Pilz und Algen bestehen, sind je nach Symbiosepartnern und Lebensumständen sehr vielgestaltig. An dem Zaunpfahl wächst zum Beispiel rechts eine Strauchflechte, deren Ausläufer in der Tat an die Äste und Zweige eines Strauchs erinnern. Die Bartflechte treibt das Längenwachstum und die Verzweigungen ins Extrem. Sie heftet sich an einer winzigen Stelle an ihrer Unterlage - meist einem Baum - fest und bildet dann aus ihren "Barthaaren" eine Art Schwamm, mit dem sie Wasser und die darin gelösten Mineralstoffe aus der Luft aufnimmt:

Sie vermehrt sich durch abgerissene Stücke, die vom Wind oder Regen an einen neuen Siedlungsplatz verfrachtet werden. Zur Not tut es auch ein Straßenschild:

Mit der Zeit werden die Bärte immer länger. Bei diesem Baum haben sie sich auf und zwischen den Ästen breit gemacht, während der Stamm von Moosen besiedelt wurde:

Wie Lametta hängen die Flechten selbst von dünnen Ästen, und auch starker Regen kann ihnen kaum etwas anhaben - so gut klammern sie sich fest:

Auch Trockenphasen machen ihnen nichts aus - im Unterschied zu Luftverschmutzung. Ein so prächtiger Bartflechten-Bewuchs deutet auf sehr saubere Luft hin:

Diese Prachtexemplare haben wir in einem Tal gesehen, durch das wir regelmäßig von unserem Ferienhäuschen an der Nordseite der Insel ins Gebirge hinauf gefahren sind. Das Tal haben die Einheimischen wohl in einem Anfall von Ironie Valleseco, also "trockenes Tal" getauft; tatsächlich ist es eine der niederschlagsreichsten Ecken der ganzen Insel. Sonst gäbe es hier nicht so mächtige alte Bäume, die neben Flechten auch anderen Organismen als Unterlage dienen:

Diese Farne zum Beispiel wachsen nicht etwa auf dem Boden, sondern auf einem dicken Ast, der außerdem mit Moos überzogen ist:

Auch die für die Kanaren so typischen Aeonien brauchen keinen Mutterboden, um zu gedeihen:

Obwohl sie alle grün sind und Photosynthese betreiben, sind die Bartflechten mit den Bäumen, Farnen, Moosen und Aeonien nur sehr, sehr weitläufig verwandt. Wie bereits erwähnt, sind Flechten Symbiosen aus einer Alge, die für die Photosynthese zuständig ist, und einem Pilz, der die Alge umhüllt und mit allem versorgt, was sie braucht. So gesehen ist die Bartflechte eher ein entfernter Vetter dieses Gebildes: 

Dieser Erdstern, der plötzlich hinter unserem Ferienhaus auftauchte, ist nämlich ebenfalls ein Pilz.

Zurück zu den Bartflechten: Warum besiedeln sie ausgerechnet Bäume in mittleren Höhen in den Tälern auf der Nordseite Gran Canarias? Nun, die kanarischen Inseln sind dem Nordostpassat ausgesetzt. Fast jeden Tag bilden sich an der Nordseite Nebel und Wolken, weil die feuchte, warme Luft, die übers Meer streicht, hier aufsteigen muss, um die Insel zu überwinden. Je höher sie steigt, desto kühler wird sie - und desto weniger Wasser kann sie als Wasserdampf speichern. Also kondensiert das Wasser zu Nebel, was in den grünen Tälern zu ganz zauberhafte Anblicken führt: Oft weiß man gar nicht recht, ob die Bäume gerade in voller Blüte stehen oder mit weißlichen Flechten überzogen sind.

Fährt oder wandert man durch die Wolken weiter bergauf, erreicht man recht abrupt eine zweite Grenze. Oberhalb ist die Luft wieder klar. Hier ragen die Wipfel der größeren Bäume gerade so aus dem Nebel heraus:

Von oben sieht man auch, dass die Täler geradezu Wolkenfjorde sind:

Oberhalb dieser Grenze finden sich kaum noch Bartflechten auf den Bäumen, und auch Laubbäume werden rar. Dafür kann man hier bei bestimmten Wetterlagen sehr weit blicken, nachdem man eben im Nebel noch kaum die Hand vor Augen sah. Hier geht der Blick nach Westen, wo das Hochland von Teneriffa aus dem Wolkenmeer aufragt - gekrönt vom Teide mit seinen 3718 Metern: